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Essay-Brief Jänner 2015

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Über „Lust und Schmerz“ hinaus gehen - 11. Kommentar zur Bhagavad-Gita

© Bernd Helge Fritsch

 

Licht und Dunkel

Die Erfahrungen des Menschen in der äußeren Welt sind dual. Das heißt, wo es für ihn Licht gibt, dort gibt es auch Dunkelheit. Es gibt für ihn kein „Angeneh­mes“ hinter dem nicht auch das „Unangenehme“ lauert. Lust und Schmerz, sie sind wie siamesische Zwillinge oder wie zwei Seiten einer Münze. Auf der dualen Bewusstseins-Ebene, kann das eine ohne das andere nicht existieren. Das eine ist sogar ohne das andere für unseren Verstand gar nicht vorstellbar. Wir würden Licht als solches nicht erkennen, wenn es nicht verschiedene Abstufungen von Licht gäbe. Und dennoch ist, aus einer höheren Bewusstseins-Dimension be­trachtet, alles in diesem Universum göttlich und vollkommen.

Wie Krishna in der Bhagavad-Gita erklärt:

2:50 Wer mit seinem Geist in der Einheit ruht, geht über das duale Beurteilen von „gut“ und „schlecht“ hinaus. Er handelt weder gut noch böse. Strebe daher nach dieser Klarheit des Yoga.

 

Die altindische Philosophie erkennt als Ursache unserer dualen Sichtweise die drei Gunas (Naturkräfte) Rajas (Verlangen, Rastlosigkeit), Tamas (Trägheit, Ge­nusssucht) und Sattva (Güte und Weisheit) - siehe Essay-Brief Okt. 2013. Mit Hilfe von Sattva (Licht der Erkenntnis), können die in unserer Seele wirkenden Ego-Kräfte (Rajas- und Tamas) überwunden werden. Dies ist die Basis um so­dann über die drei Gunas und die von ihnen bewirkten Dualitäten von Gut und Böse, Freude und Leid, Werden und Vergehen hinaus zu gehen.

14:5 Die erscheinende Natur (Prakirti) wird von den drei Ur-Kräften (Gunas): Weisheit (sattva), Leidenschaft (rajas) und Trägheit (tamas) geformt. Die unsterbliche Seele, ist mit diesen Gunas eng verbunden.

14:20 Kannst du dich über die Kräfte der drei Gunas erheben, so wirst du von allen Leiden, von Geburt, Alter und Tod befreit und erlangst ewiges Leben.

 

Das duale Denken ermöglicht unsere einmalige Individualität

Unser Erdenleben in einem Körper, verbunden mit der vom Universum vorgegebenen Art wie wir denken und fühlen, dient vorerst dazu, uns mit der erscheinenden Welt auseinander zu setzen. Die Seele erlangt und entfaltet auf diese Weise ihre einmalige Individualität. Deshalb ist es auch gut und notwendig, dass junge Menschen durch die klassischen Ego-Lebens-Phasen mit ihren Wünschen, Zielen und Leidenschaften und mit den damit verbundenen Höhen und Tiefen hindurch gehen.

Die Sehnsucht nach der Einheit

Doch in der Regel, so um die Lebensmitte und nach Erfahrung der ersten heftigen Schicksalsschläge, meldet sich beim Menschen, der dafür reif ist, immer lauter eine innere Stimme, die vermeint, dass seine bisherigen weltlichen Ziele nicht alles sein können, wozu er geboren wurde. Diese anfangs leise und im Laufe der Zeit immer deutlicher wahrnehmbare Stimme verlangt brennend nach Erkenntnis des tieferen Sinns unseres Erdenlebens. Sie verlangt nach Befreiung von den Zwängen der dualen Welt, nach innerem Frieden und wunschloser Seligkeit.

In jedem Menschen wirkt – bewusst oder unbewusst - eine Sehnsucht, das höchste Ziel und die Krönung des menschlichen Erdenlebens zu erreichen. Dieses Ziel besteht darin, die Zweiheit der Erscheinungen zu überwinden und in die beglückende Einheit mit dem Allumfassenden zurück zu kehren.

5:23 Wer der Macht der Dinge nicht ausgeliefert ist und von Begierde und Zorn nicht berührt wird, der ist ein wahrer Yogi und lebt glücklich in dieser Welt.

5:24 Er findet das Glück, die Freude und das Licht in sich und er gelangt damit zur Seligkeit Gottes (brahma-nirvana).

Bewusstsein der eigenen Göttlichkeit

Eigentlich sollte es für den Menschen gar nicht schwierig sein, in die Einheit zurück zu finden. Denn wie die Gita erklärt, sind alle Dinge und Wesen, stets in die allumfassende Gottheit (Krishna, Brahman, universelles Bewusstsein) einge­bunden.

Doch dem Menschen fehlt das Bewusstsein dafür. Es sind wenige „Weisheits­volle“, die nach vielen Inkarnationen, durch entsprechendes Streben und Verhalten ein Bewusstsein für die in ihnen wirksame Göttlichkeit erlangen. Ihnen ist es gelungen tief genug in ihr inneres Selbst hinein zu schauen. Und es zeigt sich, dass dieses Selbst identisch mit der allumfassende Gottheit ist.

7:19 Nach vielen Leben geht der Weisheitsvolle ein in mich, erkennend, dass ich in allem, was es gibt, gegenwärtig bin. Doch eine solche Seele, Ardjuna, ist schwer zu finden.

 

Im paradiesischen Ursprung waren die Menschen noch Eins mit Gott und allen seinen Schöpfungen. Doch im Laufe der Evolution hat sich im Bewusstsein der Menschen eine Trennung vollzogen. Diese Trennung wird im Gleichnis von der „Vertreibung aus dem Paradies“ im 1. Buch Mose geschildert. Bedauerlicher Weise wird von den christlichen Kirchen dieser „Sündenfall“ einseitig als etwas Negatives beschrieben. Alle Nachfahren von Adam und Eva seien von dieser „Erb­sünde“ betroffen. Nur durch die Leiden des Jesus Christus und die Gnade Gottes könnten wir von dieser Sünde befreit werden. Viel besser sollte dieses Ereignis, wie Weihnachten, als die Geburtsstunde eines, seiner Bestimmung nach, freien, selbstverantwortlichen, göttlichen Menschen gefeiert werden. Denn der soge­nannte „Sündenfall“ symbolisiert den ersten Schritt des Menschen zur selbstbewussten individuellen Gottheit.

So erklärt Gott, nachdem Eva und Adam von der verbotenen Frucht gegessen und dadurch eine Bewusstseins-Veränderung vollzogen hatten:

Und Gott sprach: Seht der Mensch ist geworden unsereins, er erkennt Gut und Böse...            ( 1. Mose 2,22)

 

Doch die meisten Theologen und mit ihnen die restliche christliche Menschheit haben die Parabel von der „Vertreibung aus dem Paradies“ nicht verstanden und  vergessen oder verdrängt, dass der Mensch zum „Ebenbilde Gottes“ (1. Mose 1,27) geschaffen wurde.

Mit der Übertretung des Gebotes, nicht von den Früchten des Baums der Er­kenntnis zu essen, hat sich der Mensch dafür entschieden, eine eigenständige Gottheit, ein Individuum, ein selbstständiges Zentrum von Bewusstheit zu sein. So war dies im göttlichen Evolutionsplan vorgesehen.

Um die Trennung zu vollziehen, begann der Mensch dual zu denken und „Gut und Böse“ zu unterscheiden. Die Welt ist seither für ihn nicht mehr paradiesisch, göttlich EINS, sondern aufgespalten in „Gut und Schlecht“, „Angenehm und Un­angenehm“, „Will ich“ und „Will ich nicht“ und so fort. Dem Menschen ist damit das Bewusst-Sein und das damit verbundene wunderbare Gefühl für die Einheit und für die Vollkommenheit dieses Seins abhanden gekommen.

Natürlich sollten wir bei dieser „Schöpfungs-Geschichte“ nicht übersehen, dass es sich dabei um ein Gleichnis handelt. Tatsächlich hat sich dieser Evolutions-Schritt nicht von heute auf morgen, sondern über viele Jahrtausende hindurch vollzogen.

Das duale Bewusstsein ein Geschenk Gottes

Die Gottheit selbst hat der Menschheit das duale Bewusstsein mit seinen Vor- und Nachteilen ermöglicht. Sie schenkt damit dem Menschen die Freiheit zu wählen, zu entscheiden. Dieser hat die Fähigkeit bekommen sich einerseits nach seinen individuellen Vorstellungen zu entfalten, schöpferisch zu wirken, seine Göttlichkeit wahrzunehmen und Liebe und Weisheit zu verwirklichen. Auf der anderen Seite lauert die Verstrickung in ein Ego mit all seinen eigensüchtigen Begehren, Eitelkeiten, Ängsten, Nöten und Leiden. Der Mensch wurde in die Freiheit entlassen und darf in der Folge sein Schicksal (Karma) selbst bestimmen.

10:4 Krishna: Aus mir gehen hervor Verstand und Erkenntnis, Geduld, Wahrheit und Selbstbeherrschung, innerer Frieden, Freude und Schmerz, Geburt und Tod, Furcht und Furchtlosigkeit, Ehre und Schmach;

13:21 Die Seele genießt die Erscheinungsweisen der Natur. Ihre Verstrickung mit diesen Erscheinungen ist die Ursache von gutem und schlechtem Karma.

 

Das Reich Gottes in uns

Wie die Gottheit alle Dinge und Wesen des Universums durchdringt, bildet sie in jedem Menschen den Kern seines Wesens. Jesus nennt diesen Kern „das Reich Gottes in uns“ (Lukas 17,21). Er erklärt, „Ich und der Vater sind eins!“ und dies gelte für alle Menschen (Joh. 10,30-36).

Der Mystiker Meister Eckehart spricht vom göttlichen „Seelengrund“ des Menschen, welcher gleichgeartet sei wie die allumfassende „Gottheit“.

„Alles, was der göttlichen Natur eigen ist, das alles ist auch dem gerechten und göttlichen Menschen eigen; darum wirkt solch ein Mensch auch alles, was Gott wirkt, und er hat zusammen mit Gott Himmel und Erde geschaffen...“                                                                                                                            Meister Eckehart

 

Wie schon öfters erklärt, ist der Mensch ein göttliches Wesen, ausgestattet mit der Schöpferkraft seiner Gedanken. Mit diesen erschafft er seine Welt und sein Schicksal (siehe Essay-Briefe „Die Kraft der Gedanken).

Gut und Böse transzendieren

Die Gottheit ruht und wirkt jenseits der dualen Gegensätze. Ebenso kann jeder Mensch als „Ebenbild Gottes“ über die dualen Gegensätze hinaus gehen und seine Gottheit verwirklichen. Doch die meisten Menschen sind noch mit einem „kleinen Mangel“ behaftet, der darin besteht, dass sie von ihrer Göttlichkeit nichts wissen wollen und daher auch gar nicht auf die Idee kommen, sie in ihrem Leben zum Ausdruck zu bringen.

Im nächsten Essay-Brief werden wir uns näher mit der Verwirklichung des Selbst – der Gottheit in uns – auseinander setzen.

Mit herzlichem Gruß

Bernd